Medizin
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BGH, Urt. v. 13.12.2023 - IV ZR 125/23, jurisPR-VersR 2/2024 Anm. 1 Neuhaus: "Berufsunfähigkeitsversicherung: Darlegung einer Raubbautätigkeit und Stichtagsprinzip"
1. Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit liegt nicht nur dann vor, wenn der Versicherungsnehmer infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls nicht mehr zur Fortsetzung seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit imstande ist. Sie ist auch anzunehmen, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen. Letzteres kann der Fall sein, wenn sich die fortgesetzte Berufstätigkeit des Versicherungsnehmers angesichts einer drohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes als Raubbau an der Gesundheit und deshalb überobligationsmäßig erweist.
2. Hat der Versicherungsnehmer bereits ausreichend zu den Auswirkungen seiner Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die beruflichen Tätigkeiten vorgetragen, so trifft ihn für den Fall, dass er auch nach dem behaupteten Eintritt der Berufsunfähigkeit weitergearbeitet hat, bezogen auf diesen Zeitraum keine zusätzliche Darlegungslast, gesundheitliche Beeinträchtigungen vorzutragen, die ihn hieran gehindert hätten.
3. Behauptet der Versicherungsnehmer, ab einem bestimmten Stichtag berufsunfähig zu sein (hier: seit dem 01.01.2015), umfasst das die Behauptung, dauerhaft seit diesem Zeitpunkt berufsunfähig zu sein. In diesem Fall kann die Ablehnung eines Leistungsanspruchs nicht allein darauf gestützt werden, die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit hätten zum Stichtag nicht vorgelegen. Das Gericht muss vielmehr auch prüfen, ob eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit zu einem Zeitpunkt nach dem Stichtag vorgelegen hat.
Anmerkung: Mit Orientierungssatz 3, der übrigens einem obiter dictum entstammt, liegt der BGH nach meiner Meinung völlig falsch, weil dies das Stichtagsprinzip über den Haufen wirft und der VR sozusagen auf jeden möglichen Termin prüfen müsste (ausführlich dazu jurisPR-VersR 2/2024 Anm. 1).
Berufsunfähigkeit bei Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Berufstätigkeit, Raubbautätigkeit
BGH, Beschl. v. 11.07.2012 - IV ZR 5/11, r+s 2013, 33 = VersR 2012, 1547 = BeckRS 2012, 20995
Berufsunfähigkeit kann auch dann vorliegen, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen. Eine solche Unzumutbarkeit kommt etwa in Betracht, wenn die Erkrankung einer Weiterarbeit vordergründig zwar nicht im Wege steht, dem Versicherten dabei aber infolge einer durch die Erkrankung indizierten Medikamenteneinnahme (hier: Marcumar) ernsthafte weitere Gesundheitsgefahren drohen.
Erforderlich ist jedoch ein Mindestmaß an Prognosesicherheit im Sinne einer rational begründbaren Vorhersehbarkeit. Daher reichen bspw. allgemeine Erwägungen, auf Baustellen gebe es schon nach der Lebenserfahrung mehr „Stolperfallen“ als etwa im Haushalt und daher sei die Gefahr schwerer Verletzungen größer, nicht aus.
Ist bei einem Schweißer, der Marcumar-Patient ist (blutverdünnendes Medikament) und auf Leitern und Gerüsten in Höhe von bis zu sechs Metern arbeiten muss, zwar klar, dass bei einem Sturz eine erhöhte Gefahr des Verblutens besteht (etwa wegen innerer Blutungen), fehlt es aber an einer gesteigerten Sturzgefahr an sich (nur „allgemeines“ Risiko eines Sturzes), kann eine Unzumutbarkeit nicht angenommen werden.
Voraussetzungen der rückschauenden Feststellung bedingungsgemäßer BU
BGH, Urt. v. 11.10.2006 – IV ZR 66/05, r+s 2007, 31 = VersR 2007, 383
Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit setzt voraus, dass der körperlich-geistige Gesamtzustand des VN derart beschaffen ist, dass eine günstige Prognose für die Wiederherstellung von verloren gegangenen Fähigkeiten in einem überschaubaren Zeitraum nicht gestellt werden kann; es muss deshalb ein Zustand erreicht sein, dessen Besserung zumindest bis zur Wiederherstellung der halben Arbeitskraft nicht mehr zu erwarten ist.
Wann erstmals ein solcher Zustand, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft keine Erwartungen mehr auf eine Besserung rechtfertigte, gegeben war, ist rückschauend festzustellen bzw. zu ermitteln.
Feststellung des Eintritts der Berufsunfähigkeit
BGH, Urt. v. 11.10.2006 – IV ZR 66/05, r+s 2007, 31 = VersR 2007, 383
1. Bei der zur Feststellung der Berufsunfähigkeit nach § 2 Abs. 1 BUZ zu treffenden Prognoseentscheidung („voraussichtlich dauernd“) ist maßgebend, dass mit einer Wiederherstellung der verloren gegangenen Fähigkeiten in einem überschaubaren Zeitraum nicht zu rechnen ist. Nicht ist darauf abzustellen, ob - entsprechend der Fiktion des § 2 Abs. 2 BUZ - binnen sechs Monaten mit der Wiedereingliederung in das Berufsleben zu rechnen ist.
2. Der Zeitpunkt, wann ein Zustand erreicht ist, dessen Besserung zumindest bis zur Wiederherstellung der halben Arbeitskraft nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr zu erwarten ist, ist rückwirkend festzustellen bzw. zu ermitteln. Die rückschauende Feststellung trägt dem Umstand Rechnung, dass der VN den Nachweis der Berufsunfähigkeit regelmäßig nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen führen kann, der auch als Mediziner des einschlägigen Fachgebietes meist erst in nachträglicher Auswertung der Krankengeschichte feststellen kann, ab wann ein nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg therapierbarer Zustand mit Krankheitswert eingetreten war.
Ermittlung des Grades der Berufsunfähigkeit, Inhaber eines Automatenaufstellbetriebes
BGH, Urt. v. 26.2.2003 - IV ZR 238/01, VersR 2003, 631 = r+s 2003, 207 = NJW-RR 2003, 673
1. Bei der Ermittlung des Grades der Berufsunfähigkeit sind die Tätigkeiten zu Grunde zu legen, die einen einheitlichen Lebensvorgang bilden. Nicht zulässig ist es, diese Vorgänge noch in - nicht abtrennbare - Einzelverrichtungen aufzuteilen und anhand dieser dann den Grad der Berufsunfähigkeit zu bemessen.
2. Bei der Bemessung des Grads der Berufsunfähigkeit des Inhabers eines Automatenaufstellbetriebes kann nicht allein auf das - diesem nicht mehr mögliche - Tragen der schweren Geldzählmaschine abgestellt werden, vielmehr sind alle mit dem Geldzählen verbundenen Arbeitsvorgänge (von der An- und Abfahrt bis zur Auszahlung des Anteils an den Gastwirt) zu berücksichtigen.
Überobligationsmäßige Fortsetzung der bisherigen Berufstätigkeit
BGH, Urt. v. 11.10.2000 - IV ZR 208/99, r+s 2001, 167 = VersR 2001, 89 = NJW 2001, 1943 = MDR 2001, 274
Übt der VN deshalb seine bisherige Tätigkeit trotz behaupteter mindestens 50%iger BU in einem diesen Prozentsatz übersteigenden Umfang aus, ist BU dennoch anzunehmen, wenn dies auf einem im Verhältnis zum Versicherer überobligationsmäßigen Verhalten beruht.
Bei der Beurteilung, ob eine die Grenze bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit (hier: 50 %) übersteigende Fortsetzung der bisherigen Berufstätigkeit auf einer überobligationsmäßigen Anstrengung beruht, kommt es nicht nur auf einen Raubbau an der Gesundheit an.
Zeitpunkt des BU-Eintritts
BGH, Urt. v. 12.1.2000 - IV ZR 85/99, r+s 2000, 170 = NVersZ 2000, 221 = VersR 2000, 349 = NJW-RR 2000, 691
Für die Feststellung der Berufsunfähigkeit in dem zuletzt ausgeübten Beruf oder in einer anderen Tätigkeit ist in der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung auf den Zeitpunkt abzustellen, für den der Versicherungsnehmer die Berufsunfähigkeit behauptet und nicht auf den Zeitpunkt, ab dem er Versicherungsleistungen begehrt.
Auf Beschwerdeschilderung des Patienten gestützte ärztliche Diagnose einer Krankheit (hier: GTM)
BGH, Urt. v. 14.4.1999 - IV ZR 289/97, r+s 1999, 344 = VersR 1999, 838
Ls. der r+s:
Der ärztliche Nachweis einer Krankheit kann nicht nur durch Befunde der Apparatemedizin geführt werden. Sind keine Befunde für die Erkrankung objektivierbar, so kann der Nachweis auch in der Weise geführt werden, daß ein Arzt die Diagnose auf die Beschwerdeschilderung des Versicherten stützt.
Ls. der VersR:
Bei einer Krankheit wie einer generalisierenden Tendomyopathie (GTM – schmerzhafte Störung der Muskel- und Sehnenansätze), die gerade durch das Fehlen naturwissenschaftlich gewonnener Untersuchungsbefunde charakterisiert wird, kann der ärztliche Nachweis der Erkrankung auch dadurch geführt werden, daß ein Arzt seine Diagnose auf die Beschwerdeschilderung des Patienten stützt.
Eintritt des Versicherungsfalls, Tätigkeit als Tennislehrer und Mannschaftstrainer
BGH, Entscheidung vom 03.04.1996 -IV ZR 344/94, VersR 1996, 830
Für den Eintritt des Versicherungsfalls ist die rückschauende Feststellung des Zeitpunkts entscheidend, zu dem erstmals ein Zustand gegeben war, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft eine Besserung nicht mehr erwarten ließ.
Disposition des Versicherten zu bestimmten Erkrankungen, Versicherungsfall bei einem Offiziersanwärter
BGH, Urt. v. 27.9.1995 - IV ZR 319/94, r+s 1996, 35 = VersR 1995, 1431 = NJW-RR 1996, 88
Auch die bloße Disposition des Versicherten zu bestimmten Erkrankungen löst in einer Berufsunfähigkeitsversicherung gemäß den Musterbedingungen von 1975 (VerBAV 75, 2) noch nicht den Versicherungsfall aus (i. A. an Senat vom 22.2.1984 - IV a ZR 63/82 - VersR 1984, 630).
BU während der Vertragsdauer, Feststellung einer anspruchsbegründenden Berufsunfähigkeit
BGH, Urt. v. 27.1.1993 - IV ZR 309/91, r+s 1993, 198 = VersR 1993, 469
Die Feststellung, der Versicherte sei während der Vertragsdauer berufsunfähig geworden, setzt voraus, daß er die Fähigkeit verloren hat, sowohl seinem bis dahin konkret ausgeübten Beruf als auch einem Vergleichsberuf nachzugehen. Beide Möglichkeiten müssen ausgeschlossen sein. War der Versicherte vor Vertragsschluß nicht mehr fähig, in seinem konkret ausgeübten Beruf tätig zu sein, hat er diese Fähigkeit nicht erst während der Vertragsdauer verloren; damit besteht für den Versicherer keine Leistungspflicht.
Eigenständiger juristischer Begriff
BGH, Urt. v. 30.9.1992 - IV ZR 227/91, r+s 1992, 427 = VersR 1992, 1386
Berufsunfähigkeit in der - auch von der Bekl. (vgl. § 2 Nr. 1 BB-BUZ) übernommenen - Definition der MB-BUZ aus dem Jahr 1975 (VerBAV 75, 2) ist ein eigenständiger juristischer Begriff und darf nicht mit Berufsunfähigkeit oder gar Erwerbsunfähigkeit im Sinne des gesetzlichen Rentenversicherungsrechts gleichgesetzt werden.
Gedehnter Versicherungsfall
BGH, Urt. v. 22.2.1984 - IVa ZR 63/82, VersR 1984, 630 = NJW 1984, 281
Die Berufsunfähigkeit kann einen sogenannten gedehnten Versicherungsfall darstellen. Ein solcher löst die Eintrittspflicht des Versicherers nur dann aus, wenn auch sein Beginn in den Haftungszeitraum des Versicherungsvertrags fällt. Dagegen genügt nicht, daß der Versicherungsfall sich bis in den versicherten Zeitraum hinein fortsetzt (vgl. BGH vom 13.3.1974 IV ZR 36/73, VersR 1974, 741).